Streuobstwiesen – Artenreicher Lebensraum aus Menschenhand

Dieser Gastbeitrag samt Fotos ist von Julia Kropfberger vom Naturschutzbund OÖ (Facebook). Er entstand auf Anregung von Linz Pflückt – unter anderem um den Anspruch der Linzer Obstbaumgärten genauer zu erläutern – und erzählt von der Artenvielfalt von Streuobstwiesen.

Der Begriff Streuobstwiese bezeichnet eine traditionelle Form des Obstbaus, bei der halb- bis hochstämmige Obstbäume verschiedener Alters- und Größenklassen – mehr oder weniger verstreut – auf einer Wiese stehen. Charakteristisch für Streuobstwiesen ist auch der Artenreichtum an Obstbäumen: Bunt gemischt gedeihen hier Apfel- und Birnbäume neben Kirschen-, Zwetschken-, Walnuss- und Mispelbäumen, jeweils in regionaltypischen Sorten. Der Unterwuchs wird meist als Mähwiese oder Viehweide genutzt.

Streuobstwiese_Fruhling_Foto_J_Kropfberger

Streuobstwiesen zählen zu den artenreichsten Lebensräumen Mitteleuropas – unter der Voraussetzung, dass die Nutzung der Streuobstwiese extensiv und ohne Einsatz von Pestiziden erfolgt. Durch die Kombination von Wiese und Baum finden verschiedensten Pflanzen- und Tierarten ein besonders großes Spektrum an unterschiedlichsten Lebensräumen.

Vor allem das reiche Nahrungsangebot lockt das ganze Jahr viele Tiere in die Streuobstwiese: Im Frühjahr übt die Obstblüte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Wildbienen und andere Insekten aus. Danach bieten die Wiesenpflanzen und die austreibenden Blätter der Bäume genügend Nahrung für Vegetarier.
Später im Jahr locken die heranreifenden Früchte nicht nur Wespen und Schmetterlinge mit ihrem süßen Duft an.
Das üppige Vorkommen von Kleinlebewesen und pflanzlicher Nahrung ist Grundlage für eine große Lebensgemeinschaft verschiedener Wirbeltiere: viele verschiedene Vogelarten wie Grünspecht und Wendehals, aber auch Igel, Feldhase und andere Säugetiere finden hier einen Lebensraum.
Selbst das abgestorbene Holz der Bäume steht auf dem Speiseplan von Totholz-Spezialisten wie dem Juchtenkäfer.
Im Winter bessern viele Vögel wie Wacholderdrossel oder Seidenschwanz das karge Futterangebot durch den einen oder anderen am Baum verbliebenen Apfel auf.

Von der Wurzel bis zur Baumkrone beherbergen Obstbäume Lebensstätten für verschiedenste Lebewesen: Asseln, Milben, Fadenwürmer und Springschwänze fühlen sich auf und unter der Obstbaumrinde wohl. Flechten und Moose siedeln sich am Stamm an. Im Geäst bauen Vögel ihre Nester. Die Baumhöhlen alter Obstbäume sind Brutplatz für Steinkauz, Gartenrotschwanz und Wiedehopf – wenn sie nicht schon von Hornissen, Fledermäusen oder dem Siebenschläfer besetzt sind. Die mächtigen Kronen der Bäume werden als Singwarten oder als Ansitzplätze für die Jagd benutzt.

Streuobstwiese_Foto_J_Kropfberger

Neben der ökologischen Funktion erfüllen Streuobstwiesen weitere wichtige Aufgaben: Streuobstwiesen gliedern die Kulturlandschaft, prägen und verschönern das Landschaftsbild und steigern dadurch den Erlebnis- und Erholungswert für uns Menschen.
Sie bremsen den Wind, produzieren Frischluft und wirken ausgleichend auf das Kleinklima. Ihre Wurzeln verhindern die Bodenerosion und spielen daher insbesondere auf Hanglagen eine wichtige Rolle. Der Unterwuchs vermindert die Auswaschung von Nährstoffen in tiefere Bodenschichten. Daher dienen vor allem extensiv bewirtschaftete Streuobstbestände dem Grundwasserschutz.

Nicht zuletzt liefern sie Futter in Form von Gras und Heu für die Haustiere und gesundes, vitaminreiches Obst für den Menschen.

Beeindruckend ist die große Vielfalt der Obstarten (Apfel, Birnen, Kirschen, Walnuss, Zwetschken, Eberesche, Mispel, Haselnuss usw.) und -sorten, welche man in Streuobstwiesen finden kann. Die geschätzte Zahl an Kultivare – Sorten/ Formen/Sippen – in Österreich liegt bei: Äpfel 400-500; Birnen 100-150; Kirschen 40-50; Weichsel 20-30, Zwetschke 100-150. Streuobstwiesen sind daher auch eine wichtige Genreserve für die Pflanzenzucht.

Die Bewirtschaftung von Streuobstwiesen ist durch den hohen Aufwand bei Pflege und Ernte oft zeit- und arbeitsintensiv, kann aber durch den Einsatz, zum Beispiel von Obstsammelmaschinen, bis zu einem gewissen Grad rationalisiert werden.
Die Mühe lohnt sich alle Mal. Das geerntete Obst kann vom Menschen auf vielfältige Weise genützt werden: zur Herstellung von Säften und Most, zum Brennen von Schnäpsen, als Dörrobst, zur Herstellung von Marmelade, Mus, Kompott, Essig oder als Tafelobst.

Durch veränderte Anbaumethoden im Inland und Billigimport von Obst für die Fruchtsafterzeugung aus dem Ausland sowie dem Mehr an Arbeit bei Pflege und Ernte, die mit dem Streuobstwiesenbau verbunden ist, ist dieser Lebensraum bei uns heute stark gefährdet – und mit ihm zahlreiche, typische Streuobstwiesenbewohner wie Steinkauz, Wendehals und Wiedehopf.
Der Rückgang der Streuobstwiesenflächen in Mitteleuropa zwischen 1965 und 2000 wird auf ca. 70 % geschätzt! Die verbliebenen Bestände sind oftmals vergreist und lückig, da absterbende Bäume nicht mehr ersetzt werden. Bestehende Obstwiesen werden oft kaum gepflegt. Vor allem Streuobstwiesen im Randbereich von Dörfern fallen der Siedlungstätigkeit zum Opfer.

Durch Erhalt von Streuobstwiesen und Neupflanzung von regionaltypischen Obstbaum-Sorten, aber auch durch den Kauf von regionalen Streuobstwiesen-Produkten kann man diesen einmaligen Lebensraum samt seiner Bewohner schützen.

Das Mundräuberhandbuch

mundraubEndlich halten wir das Mundräuberhandbuch in unseren Händen und lesen über Entstehung der Idee hinter mundraub.org. Dieses großartige Projekt hatte natürlich Einfluss auf die Entstehung von Linz Pflückt. Auch wenn mundraub.org im Unterschied zu Linz Pflückt auf Crowdsourcing basiert und daher viel stärker von den Benutzern und dessen Beteiligung abhängt, zeigen beide Projekte wie digitale und natürliche Gemeingüter sich fruchtbar ergänzen können.

Die globale und einschließende Sicht auf Themen rund ums Obst des Projekts spiegelt sich auch im Mundräuberhandbuch wieder. Einerseits wird der theoretische Rahmen zu Mundraub und Obstallmende abgesteckt und an Schlagwörtern wie Arterhaltung, Kulturlandschaft und Lebensqualität aufgezeigt. Andererseits ist es natürlich vor allem ein praktisches Handbuch das Tipps zu Ernte und Verarbeitung von Obst und zu Pflanzen und Pflege von Obstbäumen gibt.

Insgesamt ein sehr gelungenes Werk für alle Obstliebhaber und Interessierte zum Thema Gemeingüter. Die Untertitel des Buches „Freies Obst für freie Bürger“ und „Tipps, Regeln und Geschichten zur Wiederentdeckung unserer Obstallmende“ beschreiben sehr gut den Inhalt des Buches. Es wurde von Kai Gildhorn, Madeleine Zahn und Katharina Frosch herausgegeben und kann auf dieser Seite von mundraub.org bestellt werden.

Im folgenden reproduzieren wir ein Kapitel des Mundräuberhandbuchs der dem Buch „Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat“ der Heinrich-Böll-Stiftung entnommen ist.

Mundraub? Allmendeobst! von Katharina Frosch

Spätsommer 2009, in einer ländlichen Gegend im Osten Deutschlands: Flirrende Hitze, der süßlich-schwere Geruch vergärenden Obstes liegt in der Luft. Ein Baum saftiger Birnen, zu seinen Füßen liegen knöchelhoch verfaulende Früchte. Nur ein Steinwurf entfernt Sträucher mit wilden Pflaumen und Mirabellen, Holunderbü­sche und ab und an ein Apfelbaum, vielleicht sogar eine alte, seltene Sorte? Eine Fülle an frischem Obst – in durchschnittlichen Jahren sind es sehr viel mehr, als Vögel, Insekten und andere Tiere als Nahrung benötigten – vergessen, verlassen, ungenutzt.

Gehört dieses Obst uns allen? Dürfen wir es ernten? Derzeit gibt es zumindest in Deutschland keine herrenlosen Bäume: Streuobstwiesen außerhalb von Sied­lungen gehören meist Privatpersonen, selbst wenn sie nicht umzäunt sind. Die kilometerlangen Obstbaumalleen, die das Landschaftsbild in den neuen Bundesländern prägen, gehören Kommunen, Land oder dem Bund, fruchtige Parkbäume den Städten. Obst zu ernten, ohne die jeweiligen Eigentümer um Erlaubnis zu fragen, kommt demnach schlicht und einfach Diebstahl gleich.

Die Fülle an in Vergessenheit geratenem Obst im öffentlichen Raum und die fehlenden Informationen über die jeweiligen Eigentumsrechte – dies zusammen kommt einem Aufruf zum Handeln gleich. Wen fragen wir, wenn wir auf einen offensichtlich in Vergessenheit geratenen, brechend vollen Obstbaum stoßen, der sich uns geradezu anbietet? Die Webplattform http://www.mundraub.org lädt dazu ein, solche Bäume auf einer interaktiven Karte einzutragen (zu »taggen«), und Standortinformationen über bereits eingetragene Bäume abzurufen, die be­erntet werden können.

Auf der Startseite rufen einige grundlegende Regeln aber auch dazu auf, Privateigentum zu respektieren und darauf zu achten, den Bäumen und der umliegenden Flora und Fauna keinen Schaden zuzufügen – kurz: sich fair zu verhalten.

Seit dem Start im Jahr 2009 haben mehr als eine halbe Million Menschen auf die Webseite zugegriffen. Mehrere Hundert arbeiten aktiv an der Online-Obstbaumkarte mit. Ungefähr 3000 Fundstellen sind bisher eingetragen. Grobgeschätzt entspricht dies 20.000 bis 30.000 Obstbäumen. Ist diese Wiederentdeckung von Allmendeobst basierend auf der Mundraub-Map ein weiteres Beispiel für Elinor Ostroms Theorie, wie Menschen gemeinschaftlich und selbstorganisiert ein Kollektivgut effektiv nutzen und dauerhaft bewahren können?

Allen Unkenrufen zum Trotz, dass nun Horden rücksichtsloser, hungriger Städter über private Obstplantagen in ländlichen Gegenden herfallen und die an­sässigen Landwirte in den Ruin treiben würden, gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass seit dem Start der Mundraub-Initiative mehr Obst gestohlen wurde oder mehr Schäden entstanden sind als gewöhnlich. Die Nutzer übernehmen intuitiv Ver­antwortung: Mehr als einmal wurde eine Fundstelle auf allgemeinen Wunsch der Nutzer aus dem Netz genommen und damit »unsichtbar« gemacht, um den Ort vor Übernutzung zu bewahren.

Viele der mehr als 150 Presseartikel über die Mundraub-Initiative titeln »Gra­tisobst für alle«. Doch die meisten Nutzer fühlen sich der Idee des Teilens und des »Crowdsourcing« (Crowdsourcing bezieht sich hier auf die kollaborative und selbstorganisierte Samm­lung und Pflege von Informationen zu Allmendeobstbäumen durch eine Vielzahl von eigen motivierten, den Plattformbetreibern weitestgehend unbekannten Akteuren auf http://www.mundraub.org) stark verbunden. Umsonst Obst zu ernten steht hinter dem Gedanken zurück, etwas beitragen zu wollen: Sie tragen Bäume ein, starten Dis­kussionen über botanische Details, verbreiten Rezepte oder alte Kulturtechniken in Verbindung mit lokalen Obstsorten weiter, und – besonders wertvoll! – sie er­ zählen wundervolle Anekdoten über die Fundstellen.

Die Informationen auf http://www.mundraub.org über die Standorte von Obst­bäumen, die Eigentumsverhältnisse und einige wenige »Benimmregeln« helfen den Mundräubern also tatsächlich, gemeinsam Verantwortung für diese Fruchtfülle zu übernehmen: selbstorganisiert, jenseits von Markt und Staat und ganz im Sinne der »Ostrom-Schule«.

Ein langer Weg liegt aber noch vor uns, um diese wiederentdeckte Allmende zu erhalten. So brauchen Obstbäume regelmäßig fachkundige Pflegeschnitte, mit­ unter auch Nachpflanzungen. Doch der erste Schritt ist getan.

Katharina Frosch (Deutschland) ist Ökonomin und arbeitet zu sozialer Innovation in der urbanen Landwirtschaft. Sie ist Mitbegründerin von http://stadtgarten.org sowie http://mundraub.org (vom Rat für Nachhaltige Entwicklung mit dem Nachhaltigkeitspreis 2009 ausgezeichnet).

aus: Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Bielefeld: Transscript Verlag. S. 273-274. Das Buch kann als PDF hier downgeloaded werden.